Wir sind die Schülervertretung des Gymnasiums Am Löhrtor. Mein Name ist Oskar. Robin, Georg, Yannik, Linus, Julia und ich werden Ihnen heute darstellen, wie es aus der Sicht der Jugendlichen damals und heute war, diese Ereignisse mitzuerleben. Hierbei werden wir dann zwischen den jüdischen und deutschen Jugendlichen unterscheiden, um sowohl den gefallenen Soldaten, als auch den Opfern des Antisemitismus zu gedenken.

Schon damals an Gleis 4 in Siegen wurden die jugendlichen Juden versammelt um mit dem reservierten Waggon ins Ghetto von Zamosc zu reisen, wo vor kurzem die Massenexekutionen begonnen hatten. Jugendliche wie ich, er oder sie. Ich denke nicht, dass wir uns in die Lage von ihnen hineinversetzen können. In unserem Alter gehen wir Fußball spielen oder treffen uns mit Freunden. Damalige Jugendliche mussten um ihr Leben fürchten und das nicht ohne Grund. Sie konnten damals nicht mal den Gedanken an ein normales Leben verschwenden, geschweige denn sich überhaupt ausmalen, ein privilegiertes Leben so wie wir zu führen. Normalerweise führt man sich das nicht so vor Augen und denkt im Alltag nicht an diese traurigen Ereignisse zurück, aber ich finde am Volkstrauertag ist der passende Zeitpunkt dafür. Ich bin mit meinen Gedanken heute bei den damaligen jüdischen Jugendlichen und möchte das Wort nun an Georg weitergeben.

Heute am Volkstrauertag gedenken wir allen Menschen, welche unter den schrecklichen Aus- und Nachwirkungen des ersten und zweiten Weltkrieges leiden mussten. Wir als Schülerinnen und Schüler möchten besonders an die Schicksale aller betroffenen Kinder und Jugendlichen erinnern, deren Kindheit durch den Krieg maßgeblich geprägt wurde. Mir wurde die Ehre zu teil, mich mit Zeitzeugen des zweiten Weltkrieges auszutauschen. Sie teilten mit mir ihre Erinnerungen und Erlebnisse ihres durch ständige Angst und Schrecken gezeichneten Aufwachsens in der Zeit des Nationalsozialismus. Anders als wir wuchsen sie nicht in einem wohlbehüteten, friedlichen Umfeld auf, sondern betraten eine Welt, welche von Hass und Unmenschlichkeit regiert wurde. Demokratie, Frieden oder Weltoffenheit, wie wir sie heute als wertvolle Fundamente unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens schätzen und verteidigen, waren für die damalige Jugend fremd. Hass, Gewalt und Zerstörung blieben selbst den unschuldigen Kinderaugen nicht fern. Der Terror des Krieges war vor allem in den Schulen allgegenwärtig. Ein Zeuge berichtet von seiner Schulzeit, in welcher er nicht wie wir sorglos mit seinen Freunden auf dem Schulhof gespielt hat, sondern aufgrund der massiven Zerstörung der Stadt Siegen durch zahlreiche Bombenangriffe den Unterricht in einem von dicken Mauern umgebenen und von Tageslicht abgeschirmten Bunker besuchen musste. Die Stollen, wie sie die Bunker nannten, begleiteten sie durch Tag und Nacht. Bombenangriffe sorgten zu jeder Zeit für Angst und das ständige Gefühl niemals sicher sein zu können. Eine Zeugin erzählt, dass sie und ihre Geschwister abends mit Straßenklamotten zu Bett gehen mussten, die Schuhe neben dem Bett parat gestellt, um beim Erklingen der Alarmsirenen den lebensrettenden Bunker rechtzeitig erreichen zu können. Wir schliefen als Kinder behutsam, meist mit einem schönen Traum bis in den nächsten Tag hinein, während die Kinder zwei Generationen zuvor heute noch von den Alpträumen der damaligen Nächte verfolgt werden. Gleichsam wie die Schulzeit, blieb auch die Freizeit von Nationalsozialismus, Antisemitismus und allgemeiner Feindlichkeit gegenüber allem nicht-regimekonformen nicht unberührt. Heutzutage bilden Freizeit und Vereinsangebote einen wichtigen Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung. Damals dienten eben jene Angebote dem Nazi-Regime zur Gleichschaltung mehrerer Generationen. Die Mitgliedschaft in der Hitlerjugend und dem Bund Deutscher Mädchen war verpflichtend, um am Sozialleben teilhaben zu können. Öffentliches Aufmarschieren, gemeinsames Singen und militärreifes Training konditionierte die Jugend im Sinne Hitlers. Insbesondere die intensive Schulung im Umgang mit Waffen verweist auf die kriegsorientierte Erziehung und Ausbildung. Für die Kinder dieser Zeit war kein selbstbestimmtes, ruhiges Berufs- und Familienleben, sondern die bedingungslose Selbstaufgabe an ein totalitäres System vorgesehen. Ein Zeuge erinnert sich, wie er auf Befehl des Militärs mit seinen Schulkameraden in der Verteidigung der Stadt gegen die Inversion der Amerikaner helfen musste. Vergebens bauten sie tagelang an der Verteidigungsline. Ostersonntag, am 1. April 1945, wurden die Stadt von amerikanischen Soldaten eingenommen. Der Zeuge und seine Kameraden wurden ihrer Aufgabe, die feindlichen Panzer zu zerstören, entmächtigt. Mit den Worten: „Wir führen keinen Krieg gegen Kinder“, versammelten die amerikanischen Soldaten die Jugendlichen, darunter auch den Zeugen, und versorgten diese mit Schokolade. Anhaltende Angst, Unsicherheit, Freunde, die von einem Tag auf den nächsten zu Feinden werden, Hungersnot, psychische und physische Gewalt – für uns heute unvorstellbar, für die Kinder dieser Zeit Realität. Wir müssen uns mit der Aufgabe verpflichten, diesen unmenschlichen Zuständen unter keinen Umständen die Chance zu geben, erneut entstehen zu können. Dies geschieht, in dem wir der Vergangenheit mit all ihren Einzelschicksalen gedenken, aus ihnen lernen und sie niemals in Vergessenheit geraten lassen. Wie Richard von Weizsäcker in seiner Rede vom 8. Mai 1985 betonte: „Erinnern heißt, eines Geschehens so ehrlich und rein zu gedenken, dass es zu einem Teil des eigenen Innern wird. Das stellt große Anforderungen an unsere Wahrhaftigkeit.“

Wie wir gehört haben, führten Kriege und die daraus resultierenden Folgen zu Leid und Elend. 60-70 Millionen Menschen hat der Nationalsozialismus das Leben gekostet. Aus diesen erschreckenden Zahlen haben wir einiges gelernt. Gelernt, die Minderheit zu respektieren und zu schützen. Wir sollten uns allen vor Augen führen, dass Unterdrückung kein Akt der Vergangenheit ist. Manche in unserer Gesellschaft meinen, sich gegen die Minderheit zu stellen und versuchen, sie mit Gewalt an ihre Ideologien anzupassen. Genau gegen jene müssen wir uns mit gesamter Kraft stellen. Wir müssen uns zwischen den Konflikt stellen und den Opfern dieser Gewalt helfen. Wir müssen den Opfern unsere Ehre gebühren. Wir müssen um sie trauern und für sie beten. Und genau dies tun wir heute am Volkstrauertag.

Deshalb bildet bei heutigen Schülern der Umgang mit Antisemitismus als gegen Juden gerichteter Rassismus wohl das am sensibelsten behandelte Thema in der Schulzeit. Sobald in der Mittel- und Oberstufe die Jahre von 1933 bis 1945 durchgenommen werden, wird neben den rein historischen Ereignissen im dritten Reich vor allem die gesellschaftliche Entwicklung untersucht. Wie konnte aus einer demokratischen Republik eine Diktatur entstehen, wie aus einer freien Bevölkerung eine willensgebeugte, die die gezielte Unterdrückung und Massenvernichtung von Millionen Juden und Mitgliedern anderer Minderheiten nicht bemerkte, nicht verhinderte oder sogar unterstützte? Grausame zeitgenössische Berichte, ähnlich wie wir sie eben gehört haben, werden stets in Verbindung gebracht mit einer Warnung vor einer Wiederholung der Ereignisse und mit einer Verantwortung, eben diese zu verhindern und antisemitischen Strömungen vorzubeugen. Denn obwohl wir Schüler in einer anderen Zeit groß werden, verbindet uns alle derselbe Schatten der Vergangenheit. Doch versetzen wir uns einmal in die Lage eines heutigen Schülers, der leider repräsentativ ist für die Auffassung vieler Menschen. Felix ist 15 Jahre alt und geht auf ein Gymnasium. Im Geschichtsunterricht wurde der Holocaust mit all seinen Schrecken durchgenommen. Die Botschaft ist für ihn klar: Nazis sind Inbegriff des Bösen und die Deutschen haben nun eine besondere Verantwortung vor der jüdischen Gesellschaft. Felix selber kennt allerdings gar keinen Juden, zumindest nicht bewusst. Im Elternhaus kann er nicht über solche Inhalte sprechen. Sobald das Thema aufkommt, hüllen sich seine Eltern in einen Schleier aus Schweigen und Scham. Gerade wenn die Großeltern dabei sind, ist das Thema tabu. Alles in allem ergibt sich für Felix der Anschein, dass Antisemitismus ein abgeschlossenes Kapitel der deutschen Geschichte ist. Ein dunkler Schatten der Vergangenheit, den jeder kennt, den jeder hasst, und den folglich niemand zu lüften versucht. Er ist froh, heute leben zu können und nicht damals, als anscheinend die gesamte deutsche Gesellschaft schlecht und gegen Juden war, anders kann er sich zumindest die Verbrechen an der jüdischen Gesellschaft nicht erklären. Heute dagegen empfindet er die Gesellschaft als gut und tolerant. Den Gedanken der Kollektivverantwortlichkeit kann er nicht nachvollziehen. Die wahren Verbrecher, rechtsextreme Fanatiker, die ihre Judenfeindlichkeit in offener Gewalt zeigen, werden inhaftiert und von Politikern und Medien in der Luft zerrissen. Wirklicher Antisemitismus, so denkt er, gehört doch längst der Vergangenheit an.

Hass auf Juden, sei es im Internet oder im normalen Leben, bereitet vielen Eltern große Sorgen um ihre Kinder. Genau dafür wurden in Deutschland in mehreren Städten jüdische Schulen errichtet, in denen jüdische Kinder einen vertrauensvollen Ort erleben, wo sie im geschützten Rahmen ihr Judentum kennenlernen und in ihrer jüdischen Identitätsfindung gestärkt werden. David ist einer dieser Schüler. Er ist 13 Jahre alt und seit seiner Geburt Jude. Mit seiner Schwester geht er in Berlin auf eine Schule für jüdische Kinder. Jedoch ist ihr Schulalltag nicht ganz normal. Wenn die Schüler morgens zum Unterricht kommen, tragen viele zwei Kopfbedeckungen, um nicht direkt an ihrer traditionellen Kippa als Juden erkannt zu werden. Am Eingang steht bereits das Sicherheitspersonal sowie die bekannten Polizisten, welche die Kinder bereits erwarten. Durch die Sicherheitsschleuse gelangen die Schüler/innen in das Schulgebäude, welches ganztägig mit Kameraüberwachung, Polizeischutz und Sicherheitssystemen vor Anfeindungen gegenüber den Schülern und dem Schulpersonal gesichert wird. Dort können dann David und seine Schwester ihre eigene jüdische Identität finden und einen positiven Zugang zum jüdischen Selbstbewusstsein erfahren, ohne Angst haben zu müssen, wegen ihres Glaubens angegriffen zu werden. Auch zu Hause werden die Kinder darauf aufmerksam gemacht, in der Öffentlichkeit nicht sofort als Juden oder Jüdinnen erkennbar zu sein. Längere Gespräche auf Hebräisch oder das offene Tragen der Kippa sollten stets unterlassen werden, da Übergriffe auf Juden keine Seltenheit sind. So sind vor allem Schulausflüge oder der tägliche Weg zur Synagoge eine Herausforderung für die Kinder und deren Erzieher und nicht zuletzt unter polizeilichem Schutz durchführbar. Dabei haben wir uns beinahe schon fast daran gewöhnt, dass fast jede jüdische Einrichtung von der Polizei beschützt werden muss.

Antisemitismus ist eben noch kein abgeschlossenes Kapitel der deutschen Geschichte. Noch heute müssen viele Juden um ihre Sicherheit fürchten. Gerade in der Corona-Pandemie rücken Menschen jüdischen Glaubens wieder in den Fokus rechtsgesinnter Verschwörungstheorien. Und auch in der Israelkritik wird die Abneigung gegenüber Juden schnell einer fundierten politischen Meinung vorgezogen. Der Schatten der Vergangenheit ist eben nicht nur Erinnerung an vergangenes Leid. Es sollte uns vielmehr vor Augen halten, dass in unserer heutigen Gesellschaft Hass und Gewalt vertreten sind. Was können wir gemeinsam dagegen tun? Wir müssen im Dialog bleiben mit den Opfern und den Tätern und dürfen nicht wegschauen, wenn etwas Unrechtes geschieht. Der heutige Tag bringt Menschen zusammen, um gemeinsam der Opfer zu gedenken. Ebenso erfahren wir mehr über die Vergangenheit und können sie besser kennenlernen, aus ihr lernen, um Fehlern entgegenzuwirken, um Hass und Gewalt keinen Platz in der Gesellschaft zu gewähren.

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